Jan und Alex in Brasilien / Blog


22. Oktober 2008

Krankentransport

um 11:56 von Jan unter Indianer, Arbeitsalltag veröffentlicht. 4 Kommentare

Sonntag, 19. Oktober, 15 Uhr. Alex und ich sitzen gemütlich im Computerzimmer und genießen unsere 60mb Internetvolumen. Wie so oft kommen ein paar Indianer vorbei, klatschen zum Zeichen ihrer Ankuft in die Hände und rufen laut nach André (Andreas). Von Computerzimmer kann man das alles ganz gut beachten, weil der Hof und die Straße genau davor liegt.

Fünf Minuten später kommt Andreas rein und meint, es gebe da ein kleines Problem. Die Indianer berichteten, dass eine Indianerfrau, ja eig. ein Indianermädchen mit ca. 18 Jahren eine Fehlgeburt hatte und nun schon zwei Liter Blut verloren hätte. Normalerweise ist das keine Frage, da wird der Krankenwagen gerufen (auch wenn die Indianer immer noch mehr Vertrauen in ihre Medizinmänner haben!) und dann schnellstmöglich ins Krankenhaus. Allerdings gab es um ca. 14 Uhr einen starken Wolkenbruch, so dass die Straße ins Indianerdorf wohl mehr Lehmrutschbahn als einen befahrbaren Untergrund darstellt. Die Indianer hätten ihn gebeten, mit zu kommen und dabei zu helfen, die Frau nach Envira zu tragen, weil sich gerade alle Männer zum Fischen im Wald befinden (so ein Fischerausflug geht immer mehrere Tage). Da Andreas aber die letzte Nacht nur sehr schlecht geschlafen hat und körperlich nicht ganz auf der Höhe ist, fühlt er sich nicht in der Lage, mitzutragen, und fragt uns ob nicht wir tragen helfen könnten, zumindest ein Stück des Weges. Es sind ca. fünf Kilometer ins Indianerdorf, das Indianerdorf an sich ist noch einmal einen knappen Kilomenter lang. Alex und ich willigen natürlich sofort ein, ich mache mich auf den Weg zu unserem Haus um unsere Hüte und Alex' Kamera zu holen, während Alex und Andreas Gummistiefel, Strümpfe und etwas zu trinken zusammen suchen. Bei meiner Rückkehr allerdings erfahre ich von einer kleinen „Planänderung“: Da der zuständige Krankenpfleger sich schon bei einer vergleichbaren Situation in seinem Kompetenzbereich bedrängt fühlte, will Andreas lieber noch kurz mit ihm Rücksprache halten - Bürokratie auch im Busch. Das große Problem dabei ist nur, dass der Krankenpfleger kein Telefon hat und auch nach einer halbstündigen Suche unauffindbar bleibt… Wir beschließen, auch ohne seine Einwilligung loszuziehen, weil wenn die Frau wirklich schon zwei Liter Blut verloren hat ist jede Minute kostbar!

Erschwerend zu der ganzen Situation kommt auch noch hinzu, dass die Patientin eine Vollwaise ist. Damit fällt man aus dem sozialen Netz der Indianer heraus; Familie bedeutet dort nicht nur Herkunft, sondern auch Absicherung. Sie wuchs bei ihrem „Onkel“ auf, aber da sie keine Bindungen ersten Grades innerhalb des Indianerstammes mehr hat, ist sie sozial isoliert und, wenn man es denn so ausdrücken will, eine Prostituierte. Es war daher schon etwas besonderes, dass sich überhaupt zwei Indianer die Mühe gemacht haben, zu André zu kommen und ihn um Hilfe zu bitten, zumal es ja auch noch sehr schlechtes Wetter ist. Andreas hatte mit den Indianern ausgemacht, dass sie zurück ins Dorf laufen, alles vorbereiten und uns dann schon mal entgegenkommen, so dass wir uns ca. in der Mitte des Weges treffen. Laut Andrés Erfahrung kann man den Indianern bei ihren Versprechen meistens trauen – außer es regnet! Und der Himmel sah stark nach Regen aus… So laufen wir los, quer durch die oftmals mehr als zehn Zentimeter tiefe Lehmschicht, ein böiger Wind als Gegner und viele kleine Tropfen die uns ins Gesicht geblasen werden. Schon bald kleben mindestens fünf Kilogramm Lehm und Schmutz an den Gummistiefeln und die ersten Blasen machen sich bemerkbar. So machten wir auf der Hälfte des Weges nach ca. 2,5 km eine kurze Pause, André zieht seine Schuhe aus und beschließt, barfuß weiter zu laufen. Das ist aber auch ein hygienisches Problem, da sich allerlei Würmer u.Ä. im Schlamm tummeln, die oftmals auch gesundheitsgefährdend sind. Nach ca. 3 km erleichtern auch Alex und ich uns von den Unmengen von Dreck, die an unseren lehmverschmierten Gummistiefeln kleben. Ab da wird unsere Zehenabstände wesentlich verbreitert durch die Unmengen an Dreck, die wir in auf den letzten Kilometern durch unsere entferntesten Körperpartien drücken. Nach einer guten Stunde Wanderung kommen wir im Indianerdorf an, die Hoffnung, den Indianern auf dem Weg zu begegnen, ist leider nicht in Erfüllung gegangen. Wir laufen durch das Dorf, um evtl. noch ein paar Helfer zu finden, doch komischerweise hatten die wenigen verbliebenden Männer allesamt Durchfall, starke Kopf- oder Bauchschmerzen, Rückenprobleme oder eine sonstige Beschwerde, die sie dabei hinderte ein Menschenleben zu retten!

Das Haus des Onkels der Indianerfrau befindet sich ganz am Ende des Indianerdorfes. Relativ zügig wird eine Transportstange besorgt (die man einfach vom Dach entfernt), zugeschnitten und die Hängematte angebunden. Die junge Frau kommt aus dem kleinen abgetrennten Schlafbereich, und man kann ihr den Schmerz ansehen; Tränen laufen über ihr Gesicht, immer wieder krümmt sie sich und auch als sie in der Hängematte liegt hört man immer wieder leise Schmerzensschreie. Doch, bei all dem Leid, war es eine freudige Überraschung zu sehen, dass die Frau keine Fehlgeburt hatte, sondern das Kind noch in sich trug!

Und so wandern wir los; im Dorf, wegen des unebenen Geländes und der vielen Tierexkremente auf dem Boden lassen Alex und ich noch die Indianer die Tragearbeit übernehmen, doch schon direkt am Ortsausgang übernehmen wir. Es kommt einem anfangs sehr schwer vor, wir legen Pappkarton auf unsere Schultern um die Last besser zu verteilen. Einige Indianer säumen den Weg aus dem Dorf hinaus, doch auch der Anblick dieser schmerzerfüllten Frau überzeugt nur wenige, mit uns zu kommen und zu helfen. Erfreulicherweise ist ein Junge dabei, ich würde ihn auf ca. 16 Jahre schätzen, der immerhin die Zivilcourage hat, mit uns zu kommen und zu helfen. Es ist doch eine ziemliche Gruppe zusammengekommen, die nun nach Envira wandert, einige Frauen mit Kindern, die etwas Wäsche für die Frau bei sich tragen, André, der sich mit den Indianern unterhält und dabei herausbekommt, dass die Frau seit 30 (!) Stunden starke Schmerzen hat und 3 Indianermänner, die uns beim Tragen helfen und unsere Gummistiefel, die immer mal wieder den Weg säumen, aufsammeln. Und so wechseln wir auf den ersten zwei Kilometern immer wieder die Träger, jeder Abschnitt begleitet von den deutlichen Schmerzen der Frau. Kurz vor der Hälfte des Weges sind wieder Alex und ich an der Reihe, man sieht den Indianern an dass sie sehr müde und körperlich am Ende sind. Sie sind auch ein deutliches Stück kleiner (der „normale“ Indianer geht mir ungefähr bis zur Brust!) und damit auch etwas schwächer. Den Rest des Weges tragen Alex und ich nun, Gott hat meine Gebete mit der Bitte um genügend Kraft erhört. Es sind pro Person min. 30 kg auf einer Schulter zu tragen, nur durch dauerhaftes Wechseln (ca. alle 150 Schritte) kann man den Schmerz in Grenzen halten. Aber was ist unser Schmerz, der sofort nach dem Absetzen aufhört gegen das Leiden, dass diese Frau schon seit 30 Stunden spürt! Gemeinsam schaffen wir es in der selben Zeit, die wir für den Hinweg gebraucht hatten, nach Envira, verladen die Patientin und die ganze Indianerbande in den Toyota und fahren los Richtung Krankenhaus…

Am Montag wurde dann der Frau ein junges Mädchen per Kaiserschnitt entbunden. Angelika (ausgebildete Krankenschwester in der Chirurgie) assestierte dem Arzt – und nun besteht der Vater des neu geborenen Mädchens darauf, das Kind nach ihr zu bennenen. Allerdings sind die Probleme noch nicht aus der Welt geschafft. Die junge Mutter hat eine Erkältung, evtl. sogar eine Lungenentzündung – wegen der Muttermilch zögert man aber noch mit der Gabe von Antibiotikum; zudem konnte das Baby aufgrund fehlender Muttermilch auch noch nicht gestillt werden… Normalerweise geht die junge „Familie“ dann ins Indianerdorf und man sucht eine „Leihmutter“, durch die Erkältung ist die Mutter noch mehrere Tage ans Bett gefesselt… Deswegen betet bitte um Gesundheit für Kind und Mutter!

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Kommentare

Jan, du solltest Redakteur oder Schriftsteller werden, so lebendig wie du beschreiben kannst. Man, ihr erlebt schon eine harte Lebensschule. P.S. manche Leute lesen eure Blogs ganz interessiert, trauen sich aber nicht zu kommentieren. Ist schon komisch, seinen eigenen Namen im Computer zu lesen.

Sigrun Mosebach am 23. Oktober 2008, 11:26

Danke für diesen ausführlichen Bericht. Er berührt tief. Der jungen Mutter wünschen wir mit ihrem Neugeborenen alles Gute. Schön, dass ihr hier helfen konntet. Ihr berichtet ja so lebendig, dass man intensiv dabei ist. Neben der Sorge um die junge Mutter, die, so wissen vor allem wir Frauen, wirklich Schreckliches durchmachen musste (Gott sei Dank gehört das nun der Vergangenheit an) habe ich auch etwas Sorge um Euch. Haben Eure armen Wirbelsäulen alles heil überstanden? Ich hoffe es sehr. Seid nun herzlich gegrüßt und ich bin gespannt, was und worüber ihr noch alles berichten werdet.

Dorothee Klein am 23. Oktober 2008, 16:04

Lieber Alex und lieber Jan, seit einem Kaffeebesuch im September bei Dori in Sulzbach sind wir (Anne aus Murrhardt und Ursel aus Murrhardt) mit großem Interesse auf Eurer Spur. Brasilien ist uns seit dieser Zeit erheblich näher gerückt und wir saugen Eure Berichte regelrecht auf. Vielen Dank auch für die lebensnahen Erzählungen aus Eurem Alltag und die begleitenden, eindrucksvollen Bilder, durch die wir uns alles noch viel genauer vorstellen können.

Weiterhin eine gute Zeit wünschen Euch Anne und Ursel

Anne Mauser am 27. Oktober 2008, 10:24

So meine Freunde und Brüder, ich würd ja echt gern öfter mal vorbeischauen hier aber wie ihr wisst, im guten alten Deutschland gehn die Uhren anders, vorallem beim guten alten Schulze. Klingt mal echt spannend lustig tragisch…also grob gesagt abwechslungsreich, die indianer sind vlt. mal assis, sowas möcht man ja kaum glauben. Klingt echt toll bei euch da unten, und mir bleibt nix anderes übrig als mir schon wieder n`film reinzuziehn, wahrscheinlich wieder dieselben langweiligen shippes dabei reinhaun und natürlich bier, was auch sonst, hier wird einem garnicht die möglichkeit auf Abwechslung gegeben. Tja, dann halt essen gehn, schwimmbad, kino, vlt auch mal dicke einkaufen. Die Langweiligen Zeitvertreibe der Zivilisation eben, mann ihr habt das alles nicht, ihr habt nur den schweiss eurer Arbeit, angesicht in Angesicht zur unbarmherzigen Natur immer in der ständigen Gefahr Opfer wilder Durchfallerreger zu werden, ein Traum… Öh, naja, ich geh dann mal … Film gucken^^

Arrividerci, Yulyan

Yulyan am 27. Oktober 2008, 15:20

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